Mystische Erfahrung

von Lexikon

Was ist eine „mystische“ Erfahrung? Allgemein ist zu sagen, dass bei dieser Erfahrung die Trennung zwischen dem → Selbst und dem Nichtselbst aufgehoben wird. Die mystische Erfahrung verlässt die Verhaftung an eine „persönliche“ Identität und geht in einen Zustand über, der mehr oder weniger nichtdualistisch erlebt wird. Es wird eine Einheit und eine gegenseitige Vernetzung mit allem Existierenden und Nichtexistierenden erfahren. Die Zeit- und Raumempfindung ist dabei aufgehoben, Grenzen zwischen verschiedenen → Bewusstseinsfeldern verschwinden. Hier und Dort sind nicht getrennt, alles ist hier im gegenwärtigen → Augenblick. Der Geist ist in der Lage, die → Dualitäten des Seins wie Gut und Böse, Glück und Leid, Groß und Klein zu transzendieren. Gehirn und Bewusstsein werden überflutet von außergewöhnlich starken Gefühlen oder von einer völlig distanzierten Gelassenheit. Ekstase, intensive Freude und Glückseligkeit durchdringen den ganzen Menschen. In theistischen spirituellen Lehren wird von der Erfahrung von Gottes Nähe gesprochen, in anderen Lehren von Erleuchtung und Verbindung mit einer unfassbaren Wirklichkeit des Lichts.
Die Erfahrung mit oder „in“ der spirituellen Welt wird im Allgemeinen als „kosmisches → Bewusstsein“ oder „objektives Bewusstsein“ bezeichnet. Für den christl. Mystiker (→ christliche Mystik) ist das Ziel seines Strebens die unio mystica, die Vereinigung mit Gott; manche Yoga-Lehren nennen diese Erfahrung sat-chit-ananda – „Seligkeit“, „höchste Freude“. Im → Schamanismus wird dieser mystische Zustand nicht explizit angestrebt, weil die → Visionssuche im Vordergrund steht. Dennoch gibt es auch mit schamanischen Techniken Erfahrungen des kosmischen, grenzüberschreitenden Bewusstseins, besonders unter Zuhilfenahme von psychedelischen Pflanzen.
Es ist allerdings schwierig, eine Unterscheidung zwischen einem kosmischen und einem mystischen Bewusstsein zu treffen. Möglicherweise kann das kosmische Bewusstsein der Welt der → Energien zugeordnet werden, insbesondere der Ebene der → psychedelischen Erfahrung, die meist eine erhöhte, energetische und visionäre Wahrnehmung verursacht. Ein mystischer Zustand geht über das bewusste Erfahren und Verstehen hinaus und führt in die Welt des „reinen Geistes“ – ein Zustand, der im Buddhismus als → Nirwana, Verlöschen, bezeichnet wird. Deshalb sind Berichte von Gotteserfahrungen oder Vereinigung mit dem Göttlichen, wie sie christl. Mystiker schildern, nicht von Bildern und Visionen begleitet, sondern zeigen eher eine Erfahrung von unbedingter Kraft.
Die Sufi-Mystiker (→ Sufismus) unterscheiden zwei höhere Zustände: Eine Richtung sucht die Einheit mit Gott, und die andere hat die Tendenz, über das Sein und jegliche Vorstellung von Gott hinaus in die „absolute Befreiung“ (→ Nichtsein) vorzudringen. Der Yogi-Mystiker strebt auch dieses Bewusstsein an, nirvikalpa-samadhi, den Zustand ohne Unterscheidung. Im Buddhismus ist es auch die „Leerheit“, → Shunyata, das Nichtsein oder die vollkommene Transzendenz jenseits von Existenz und Nichtexistenz. Das tantrische → Samadhi-Erlebnis wird von manchen Lehren (→ Tantra) als mystische Hochzeit von Shiva und Shakti interpretiert, das zum Teil auch durch den in langwierigen Übungen intensivierten sexuellen Orgasmus bewirkt wird. Dieser Orgasmus, in dem sich ein Paar energetisch völlig verschmolzen fühlt und gleichzeitig das „Bewusstsein verliert“, kann durchaus als mystische Erfahrung beschrieben werden, da keinerlei Beobachter und Selbstbewusstsein mehr vorhanden ist.
Die verschiedenen Beschreibungen der überbewussten Zustände sind manchmal paradox. Die Buddhisten sprechen davon, dass unser Ich oder dauerhaftes Selbst eine Illusion sei, die → Vedanta-Philosophen behaupten, alles sei → Brahman, das Absolute, und wir müssen nur in diesen Zustand aufwachen oder eingehen, während manche Sufi-Lehren meinen, wir müssten unsere eigene Individualität erschaffen, um überhaupt die Erfahrung eines veränderten Bewusstseinszustandes aushalten zu können. Der Yogi konzentriert seine Aufmerksamkeit unerschütterlich auf das reine Bewusstsein, das er als unaussprechlich, beseligend und frei von Zeit und Raum und allen sonstigen Begrenzungen im → Samadhi erfährt. Ihm geht es um die Verschmelzung des individuellen Selbst (Atman) mit dem großen Selbst (Brahman).
„Es ist wohl richtig, dass die höheren Welten freier sind als die niederen, aber es gibt noch etwas, das nichts mit diesem Gesichtspunkt zu tun hat: nämlich dass jeder einzelne von uns seine eigene Vollkommenheit finden muss. Vollkommenheit ist Vollkommenheit – mehr gibt es nicht. Wenn jemand erreicht, wofür er bestimmt ist, hat er seine Vollkommenheit erlangt, und alles andere ist ohne Bedeutung.“ (John G. Bennett 1984, 349)

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