Tibetischer Buddhismus, Schulen

von Lexikon

Im tibet. Buddhismus gibt es außer den vier bekannten Hauptrichtungen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden sind, noch eine Fülle von kleineren Schulen bis hin zu Familientraditionen. Daraus entstand eine große Vielfalt der Praxis.
Die älteste unter den vier größten Schulen ist die Nyingma-Tradition, die Überlieferung der Alten – eine Sammelbezeichnung für all jene Übertragungslinien, die auf die Zeit der ersten Verbreitung des Buddhismus in Tibet im 8. Jh. zurückgehen. Als Begründer des tibet. Tantra gilt allgemein Padmasambhava, der „Lotosgeborene“. Charakteristisch für die Nyingma-Schule ist ihre starke yogische Tradition, die so genannte „Weiße Sangha“ (sangha = „Schule“, „Gemeinschaft“) der Einsiedler, Nomaden und „Haushälter“, die sich in dieser Schule neben dem Mönchtum (der „Roten Sangha“) entwickelt hat.
Die Nyingma-Praxis kennt viele magische und archaische Elemente, die jedoch gerade in unserer Zeit teilweise erstaunlich „zeitgemäß“ wirken. Die Hauptlehre dieser Schule ist Dzogchen („Große Vollendung“), ein Übungsweg, der in den letzten Jahren in der westlichen Welt immer bekannter wird. Typisch für die Dzogchen-Sicht ist die Anschauung, dass die Erleuchtung bereits da ist und es nur gilt, sich dessen bewusst zu werden. Diese Art der Übung wird manchmal auch Ati-Yoga genannt, „außergewöhnlicher Yoga“. In dieser Tradition wird auch die Übungsmethode des Kum-mNye gelehrt, das Teil der Überlieferung spiritueller und medizinischer Theorien und Übungen ist, die die tibet. Medizin mit der Medizin Indiens und Chinas verbindet. Es sind Sitz- und Bewegungsübungen, die in vielerlei Hinsicht dem → Qigong gleichen bzw. daher stammen.
Die zweite im Westen verbreitete Schule ist die Kagyüpa-Linie. Im Zentrum ihrer Lehren steht das Große Siegel, → Mahamudra, und die Tilopa zugeschriebenen „Sechs Yogas“, Naro Chödrug. Diese Meditationstechniken entsprechen teilweise dem „Tibetischen Totenbuch“ („Bardo Thödol“), in dem die Erfahrungen des Klaren Lichts und der so genannten Zwischenzustände (→ Bardo) beschrieben werden. Außerdem gibt es eine reichhaltige Praxis der magischen (→ Siddhi) Beherrschung des Körpers und anderer Gegenstände, darunter die Entwicklung der inneren Hitze, das Verlassen des Körpers oder die Unsichtbarkeit.
Diese Linie wurde begründet von Tilopa (988-1069), dem Naropa, Marpa, Milarepa und Gampopa nachfolgten. Seit dem 12. Jh. ist der Karmapa geistiges Oberhaupt der Karma-Kagyü-Linie (Skr. karma, „Tat“). Er trägt die Schwarze Krone, ein Kraftfeld, das die tiefsten Zustände der Offenheit in seinen Anhängern erwecken kann.
Gyalwa Karmapa gilt als erster bewusst wiedergeborener Lama Tibets. Der 16. Karmapa Rangjung Rigpe Dorje (1924-1981) verließ 1959 Tibet infolge der chines. Besatzung und ging nach Indien. Er lehrte weltweit und sorgte dafür, dass das buddhist. Wissen über die Natur des Geistes in die moderne Welt kommen konnte. Seine Wiedergeburt, der 17. Karmapa Thaye Dorje, wurde 1983 in Tibet geboren und konnte 1994 ausreisen. Heute lebt er im nordindischen Kalimpong. Dort durchläuft Karmapa eine intensive buddhist. Ausbildung mit Hilfe seiner Lehrer wie Künzig Schamarpa, Khenpo Chödrak und Sempa Dorje. Er studiert philosophische Texte, die tibet. Sprache und Engl. Außerdem verbringt Karmapa mehrere Stunden täglich mit Meditationsübungen. Gelegentlich macht er unter Anleitung verschiedene Retreats.
Das → Mahamudra wird besonders bei den Kagyüpa gelehrt. Mahamudra ist von der Essenz her tibet. → Zen – beide stammen aus derselben Quelle. Der Unterschied zwischen den beiden Schulen liegt in der Nutzbarmachung der Lehre vom Begreifen der wahren Natur des Geistes. Dies hat zu unterschiedlichen „Praktiken“ oder „Stilen“ geführt, wobei die tibet. Linie des Zen entsprechend ihrer kulturellen Eigenheiten die „farbenprächtigste“ ist.
Im Westen weniger stark repräsentiert sind die Gelugpa – und die Sakyapa-Schule. Die Gelugpa-Linie, die von Tsong-Ka-pa begründet wurde, legt besonderen Wert auf die Einhaltung der Mönchsregeln. Seit der Institution der Dalai Lamas hat die Gelugpa-Schule seit dem 17. Jh. die politische Führung in Tibet inne. Die Sakyapa-Schule bemühte sich um eine systematische Ordnung des Tantra-Schrifttums, wandte ihre Aufmerksamkeit aber auch Problemen der buddhist. Logik zu.
Mittlerweile gibt es in vielen Ländern der westlichen Welt Meditationszentren tibet. Schulen, darunter sehr viele der Kagyüpa- und der Gelugpa-Schule. Der gegenwärtige Dalai Lama hat durch seine weltpolitischen und religiösen Aktivitäten viel zur Verbreitung des tibet. Buddhismus in aller Welt getan.
Einer der ersten Vertreter der Nyingma-Tradition war Tarthang Tulku, der in Kalifornien ein großes Meditations- und Studienzentrum gegründet hat und der v.a. durch seine Bücher über Kum-mNye, ein tibet. System von Körperübungen, bekannt geworden ist. Auch → Sogyal Rinpoche, ein anderer Nyingma-Lama, hat mittlerweile eine Sangha westlicher Schüler um sich versammelt. Einer der ersten Vertreter der nichtmönchischen Sangha der Nyingmapa ist Ngakpa Chögyam Rinpoche, der sich bemüht, mit seinen Schülern diese besonders dynamische und direkte Tradition im Westen bekannt zu machen.
Ein weiterer wichtiger tibet. Lehrer im Westen, der sich jedoch keiner der genannten Traditionen zugehörig fühlt, ist Namkhai Norbu Rinpoche, der bekannteste Vertreter des Dzogchen.

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